Cover
Titel
Bilder des Fremden. Visuelle Fremd- und Selbstkonstruktionen von Migrant*innen in der BRD (1960–1982)


Autor(en)
Czycholl, Claudia Valeska
Reihe
Edition Kulturwissenschaft 247
Anzahl Seiten
298 S., 63 SW- und 30 Farb-Abb.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stephanie Zloch, Institut für Geschichte, Technische Universität Dresden

Die ersten beiden Fotografien, mit denen das Buch aufwartet, signalisieren bereits dessen Anliegen: Das Cover zeigt eine Szene von 1965 auf dem Bahnhof Istanbul-Sirkeci – die Abreise von vier Frauen, die mit hoffnungsfrohen Gesichtern aus dem Zugfenster schauen. Als Auftakt zur Einleitung folgt ein Foto von zwei Frauen in lässiger Pose, die eine am Steuer eines Autos, die andere an die Autotür gelehnt, aufgenommen 1967 in Pforzheim. In beiden Fällen handelt es sich um private Fotografien. Sie stehen für den angestrebten Perspektivwechsel von gewohnten, vielfach stereotypisierenden Medien-Bildern hin zu den noch wenig bekannten Selbstdarstellungen von Migrant:innen.

In ihrer 2019 an der Universität Bremen angenommenen kulturwissenschaftlichen Dissertation stellt Claudia Valeska Czycholl fest, dass das Thema Migration in der bundesdeutschen Presse als „Projektionsfläche der deutschen Mehrheitsgesellschaft“ fungiere (S. 10) und zur „Konstituierung und Legitimierung eines hegemonialen nationalen Narrativs der Bundesrepublik“ beitrage (S. 11). Damit steht sie im Einklang mit einer Reihe jüngerer diskriminierungs-, macht- und rassismuskritischer Studien zur medialen Berichterstattung über Migration und Migrant:innen. Unter Verweis auf postkoloniale Theorieangebote zu Differenzkonstruktionen soll die Untersuchung von Privatfotografien dazu dienen, hierarchisierende Erzählungen von „Wir“ und den „Anderen“ zu brechen. Die gewählten Quellen sollen Einblicke in die Selbstvergewisserung und die familiäre Situation von Migrant:innen bieten und damit der Komplexität und Heterogenität von Migration Rechnung tragen. Auch zur Rolle und Funktion von Privatfotografien existieren bereits kulturwissenschaftliche Studien. Czycholl entwirft somit keine Gegenposition zum Forschungsstand, sondern definiert ihr Vorhaben einer kontrastierenden Untersuchung von Presse- und Privatfotografien in erster Linie chronologisch, da für den Zeitraum von 1960 bis 1982 noch keine eingehende Analyse visueller Berichterstattung über Migrant:innen vorliege.

Die Arbeitsmigration in die Bundesrepublik, die somit im Fokus der Studie steht, wird historisch knapp und im Wesentlichen basierend auf den Arbeiten Ulrich Herberts skizziert, bevor Czycholl auf ihr Quellenkorpus zu sprechen kommt. Es besteht aus 636 Pressefotografien der Wochenzeitschriften „Spiegel“ und „stern“ sowie 920 privaten Einzelfotografien, die im DOMiD-Archiv in Köln verwahrt und mit Aufnahmedaten versehen sind.1 Methodisch nutzt Czycholl ein ikonographisch-ikonologisches Einzelbildverfahren, den stärker quantifizierenden seriell-ikonographischen Ansatz nach Ulrike Pilarczyk und Ulrike Mietzner, die Diskursanalyse in Anlehnung an Michel Foucault sowie das Habitus-Konzept Pierre Bourdieus, das insbesondere für die Privatfotografien von Migrant:innen Anwendung finden soll. Auf diese umfangreichen theoretisch-methodischen Ausführungen von rund 60 Seiten folgt die empirische Analyse in drei Teilen: „Abreisen und Ankommen“, „Arbeit und Streik“, „Freizeit und Konsum“.

In „Abreisen und Ankommen“ liegt der Schwerpunkt auf Bahnhofsszenen und Zugreisen. Privatfotografien von Abreisen in Istanbul und Thessaloniki geben den Blick auf individuelle Reisende und Verabschiedende und ihre sichtbaren Gefühlsregungen frei. In den Motiven der Pressefotografien überwiegen dagegen größere Menschenansammlungen, etwa bei der Ankunftssituation am Münchner Hauptbahnhof, die schon häufiger zum Gegenstand migrationshistorischer Studien geworden ist. Nach Czycholls Interpretation wecken solche Fotos Assoziationen eines Trecks von Geflüchteten und Vertriebenen, gar einer Invasion. Plausibel wird dies durch die Texte der Presseberichte, die ausgiebig von Kriegs-, Militär- und Kriminalitätsmetaphern Gebrauch machten. Ein ähnlich prominentes Bild stellt die Ankunft des millionsten Gastarbeiters, des Portugiesen Armando Rodrigues de Sá, 1964 am Kölner Hauptbahnhof dar. Czycholl folgt der in früheren migrationshistorischen Arbeiten geäußerten Kritik, dass Migrant:innen trotz des Wirtschaftsbooms nur eingeschränkt am Massenkonsum teilhatten, symbolisiert in einem Rodrigues de Sá geschenkten Moped, während längst das Auto Leitbild bundesrepublikanischer Mobilität geworden war. Die Fotoanalyse bringt hier keine zusätzlichen Erkenntnisse, und dies gilt auch für den ebenso bekannten und medial verbreiteten Topos von Bahnhöfen als Freizeit-Treffpunkten von Migrant:innen.

In „Arbeit und Streik“ legt Czycholl dar, dass Privatfotografien von Migrant:innen bei der Arbeit in aller Regel Menschen mit einem positiven Selbstbild sowie eine „moderne und gleichberechtigte Existenz an Arbeitsstätten“ zeigten (S. 151). In scharfem Kontrast hierzu standen wiederum die Pressefotografien: Bevorzugte Motive waren die schlechten Arbeitsbedingungen ausländischer Arbeitnehmer:innen, in Begleittexten teils mit kolonial geprägten Begriffen wie „Kuli“ (S. 174) unterstrichen. Die These einer „Ethnisierung und Kulturalisierung gesellschaftlicher Konflikte“ (S. 177) leitet auch die eindringliche Analyse von Pressefotografien zum Streik bei Ford in Köln 1973.

Während Migrant:innen in der Presse kaum als Konsument:innen präsent waren, standen auf privaten Fotografien häufiger Radios, Fernseher oder Videorekorder als Statussymbole im Bildmittelpunkt. Den Schwerpunkt des Untersuchungsteils „Freizeit und Konsum“ bildet aber das Auto. Während Pressefotografien den Autobesitz von Migrant:innen allenfalls im Kontext der unfallträchtigen Heim- und Rückreise auf der „Balkan-Route“ zeigten und mit dem Schlagwort „Türkengefahr“ verunglimpften, dokumentierten private Auto-Bilder von Migrant:innen den Stolz auf das während des Deutschland-Aufenthalts Erreichte. Czycholl hebt besonders hervor, wenn sich Migrantinnen mit Autos ablichten ließen, und setzt dazu die sexualisierte deutsche Auto-Werbung in Kontrast, die Frauen als passives und dekoratives Element zeigte. Vielleicht ein wenig zu sehr vom Optimismus ihrer Quellen getragen, lobt Czycholl das Auto als entscheidenden Faktor, um „sozial, räumlich und zeitlich unabhängig“ zu sein (S. 204). Doch zweifellos führte Mobilität zum analytisch interessanten Phänomen einer „Transgression des Raumes“ (S. 237) zwischen der Bundesrepublik und dem Herkunftsland.

Der Erkenntnisgewinn der Arbeit liegt in der ausführlichen Analyse der privaten Fotografien von Migrant:innen und deren Spannungsverhältnis zu den Fremdkonstruktionen der Presseberichterstattung. Letztere sind durch Studien sowohl der historischen als auch der sozial- und kulturwissenschaftlichen Migrationsforschung in ihren grundlegenden Diskurslinien bereits gut bekannt. Deswegen ist zu bedauern, dass Czycholl den Darstellungen in „stern“ und „Spiegel“ einen so großen Umfang einräumt: Während auf die Pressefotografien rund 100 Seiten der Arbeit entfallen, sind es bei den Privatfotografien nur rund 40 Seiten. Hinzu kommt, dass Czycholl bei den Pressedarstellungen – sinnvollerweise – nicht nur die Bilder, sondern auch die Begleittexte unter die Lupe nimmt, während die Privatfotografien allenfalls mit Aufnahmedaten und knappen Bildbeschriftungen überliefert sind. Dies verstärkt die Asymmetrie zuungunsten der Privatfotografien.

Einige inhaltliche Aussagen sind unter Vorbehalt zu sehen, da der Großteil der Privatfotografien aus den 1960er-Jahren stammt und damit die sozio-demographischen und politisch-kulturellen Veränderungen unter den Arbeitsmigrant:innen bis in die 1980er-Jahre nicht hinreichend reflektieren kann. Schließlich erweist sich das diskriminierungs- und machtkritische Interpretationsraster an manchen Stellen als zu starr, um die Komplexität von Migration abzubilden; auch die von Czycholl konstatierte „Polysemie von Fotografien“ (S. 272) wird dadurch nicht immer ganz ausgeleuchtet. Ein Beispiel ist ein Pressefoto im „stern“ von 1961, das eine spanische Arbeiterin in Wolfsburg beim Flamenco-Tanz am Feierabend zeigt. Czycholl sieht darin zuallererst einen Topos, der die „Andersartigkeit“ Spaniens und darin das „exotisierte, erotisierte Fremdbild“ (S. 157) der temperamentvollen Spanierin betont, assoziiert gar mit einer „Weiblichkeitsimagination im Kontext europäischer Orientalismus-Diskurse“ (S. 155) – soweit frei nach Edward Said, der hierfür allerdings die türkische Bauchtänzerin anführte. Dies alles ist mehr voraussetzungsvolle Einordnung als detaillierte Bildanalyse, die die Arbeit ansonsten auszeichnet. Welche Rolle aber spielen die Zuschauerinnen auf dem Bild, spanische Kolleginnen, denen die Darbietung offenkundig gefällt? Können Migrant:innen Traditionen und Wissensbestände pflegen und Freude daran haben, auch um den Preis, dass dies anderen Betrachtenden als stereotyp oder „exotisch“ erscheint? Sind Bildaussagen von Privat- und Pressefotografien grundsätzlich unvereinbar?

Claudia Valeska Czycholls Studie hätte durch offenere Fragen und einen mutigeren Fokus auf die Agency von Migrant:innen stärker über das Erwartbare hinausgelangen können. Es bleibt ein solide gearbeitetes, flüssig geschriebenes Werk, das einen zuverlässigen Überblick der wichtigsten Diskurslinien medialer Darstellung von Migration in die Bundesrepublik und zugleich wichtige Anregungen zum Erkenntnispotenzial privater Fotografien liefert.

Anmerkung:
1 Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland, https://domid.org (19.05.2021).